Ratibor war mehr als eine Studienreise
Gemeindefahrt von Essen über Liegnitz, Ratibor, Krakau und Breslau zurück nach Essen vom 29. September - 7. Oktober 2011
Am 29. 09. versammelte sich eine leicht aufgeregte, fiebernde Schar von schon nicht mehr so ganz jungen Spurensuchern um 5.45 Uhr in unserer Christus König-Kirche zum Morgengebet mit anschließendem Reisesegen durch Pastor Niekämper, ehe sie dann den Bus bestieg, der alle auf große Fahrt nach Polen brachte.
Wir – das waren die 23-köpfige Großfamilie von 20 Mitgliedern aus Christus König, Annemarie Forstmann aus der benachbarten Markus-Gemeinde, Elsa Sippel aus unserer evangelischen Nachbargemeinde und Waltraud Schüffler aus Essen-Ost. 14 Frauen als Mehrheit hielten uns Männer natürlich meist an der kurzen Leine, waren aber auch sehr besorgt um die schwache Minderheit. Christina Kosmala, unsere Kleinste, zählte nicht halb so viele Jahre wie die Älteste, Ilse Krisam. – „Mama“ und „Papa“ unserer kinderreichen Familie agierten gar nicht streng, sondern antiautoritär, hatten sie doch auch artige, freundliche und hilfsbereite Zöglinge im Schlepptau, die sich gut benahmen, immer interessiert zeigten und folglich von Bekannten, Freunden und Verwandten, die wir in Ratibor besuchten, ob ihres Verhaltens belobigt und reich beschenkt wurden.
Wir alle waren neun Tage vom Glück verfolgt: Niemand erkrankte, fiel hin, verletzte sich oder erlitt einen Unfall. Uns schien (verdientermaßen) vom ersten bis zum letzten Tag immer die Sonne bei idealen Temperaturen. Die Fahrer brachten uns unter der kundigen Leitung des bärtigen Antonin Bok umsichtig und sicher von Ort zu Ort, immer im vorgesehenen Zeitplan, mit Pausen nach Bedürfnissen und Absprachen. Unsere weite Fahrt war vom Reiseveranstalter CarpeDiem/Görlitz hervorragend konzipiert und organisiert.
In Ratibor wurden wir begrüßt, angenommen und bewirtet, als ob wir schon immer dazugehört hätten. Wir feierten „in unserer Familie“ wie auch mit der Liebfrauengemeinde festliche und bewegende Gottesdienste. Unser Besichtigungsprogramm lenkte uns von einem Höhepunkt zum andern, was insofern möglich war, als die einzelnen Stationen uns zu so ganz unterschiedlichen Orten der Geschichte, Kultur und Kirche Polens führten, die uns immer neue Einblicke und Eindrücke vermittelten.
Es ist für Sie als Leserin oder Leser wohl nicht reizvoll oder lesenswert, in diesem Bericht alle Stationen unserer beeindruckenden Rundreise zu durchlaufen, denn – in Worte gefasst – wäre für Sie nur Wiederholung, was für uns immer neue erlebte, faszinierende und staunenswerte Entdeckung und Begegnung war. (Vielleicht können und möchten Sie einer solchen Entdeckung nachspüren in einem für Januar des kommenden Jahres geplanten Lichtbildervortrag im Gemeindehaus.) – Wir möchten Sie an dieser Stelle nun neugierig machen und Ihnen vermitteln, was uns besonders aufgefallen ist und berührt hat.
Polen (soweit wir es erkundet und kennen gelernt haben), inzwischen ein westeuropäisches Land, gewinnt jeden Besucher sowohl durch seine faszinierenden, lieblichen Landschaften als auch durch geschichtsträchtige Großstädte (Krakau, Breslau), die ein Flair wie etwa Prag oder Budapest verströmen. Die leidvolle Geschichte Polens, vor allem die der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, spiegelt sich in der Spannung zwischen vom Krieg weitgehend verschonten Städten wie Krakau und durch den Krieg zerstörten Städten wie Breslau oder auch Ratibor. Diese, wiederaufgebaut, erinnern teilweise an die Architektur der aus dem Boden gestampften Stadtteile in unseren östlichen Bundesländern. Der Tourist aber vermisst nichts, an das er sich durch langjährige Konsumfreudigkeit gewöhnt hat, ausgenommen die hohen Preise, die er selbst in Polens Großstädten bei Essen, Trinken und Eintritten (noch) vergessen darf.
Oberschlesien mit Ratibor (als einem der Mittelpunkte) ist eine Provinz, von der einzelne Regionen noch stark in der Zugehörigkeit zu Deutschland (bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges) wurzeln. Die deutschstämmigen und Deutsch sprechenden Bewohner sind heute Polen, die natürlich auch Polnisch sprechen, sich aber primär noch als Deutsche verstehen und fühlen. Insbesondere die Älteren beherrschen die deutsche Sprache perfekt. Und wie sehr die Muttersprache als ein identitätsstiftendes Moment ihrer Befindlichkeit gepflegt und geliebt wird, zeigt sich z.B. in der fast glühenden Verehrung des Dichters Joseph Frh. von Eichendorff, der in dem kleinen Ort Lubowitz nahe Ratibor (6 km) geboren und aufgewachsen ist .Eichendorff, in der Literaturforschung bei uns oft und lange fälschlich als romantischer Träumer zu den Akten gelegt, ist im oberschlesischen Raum noch geradezu lebendig. Auf dem Friedhof seines Geburtsortes Lubowitz stehen Tafeln mit einigen seiner schönsten Gedichte, soweit sie die Todes- und Sterbensproblematik thematisieren.
Die mühelose Beherrschung der deutschen Sprache seitens unserer Gastgeber machte es uns so leicht, während unseres Aufenthaltes in Ratibor ins Gespräch zu kommen. Bei den vielen gemeinsamen Mahlzeiten und Ausflügen saßen wir uns nicht blockweise gegenüber, sondern Seite an Seite nebeneinander und sprachen über unsere Gemeinden, Gott und die Welt. Der Sonntagabend mit köstlichem Buffet im Gemeindehaus, Austausch von Informationen über unsere Gemeinden, Grußadressen, zwei eigenen Kompositionen von Kamilla Sput als Gastgeschenk an uns und gemeinsamen Liedern bedeutete den Abschluss der Begegnung in Ratibor, der eigentlich viel zu früh kam.
Eine weitere wichtige Erfahrung auf unserer Studienreise war die Begegnung mit dem polnischen Katholizismus. Dass für die polnische Nation (deren Staat vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und dann noch einmal im Zweiten Weltkrieg fremde Mächte von der Landkarte strichen und unter sich aufteilten) Kultur und katholische Kirche die Rettungsanker waren, um an der Idee der Nation festzuhalten, wirkt noch bis heute nach. Polen ist katholischer als etwa die Bundesrepublik. Und bei Besuchen wie aus Büchern kann man lernen, dass etwa Papst Johannes Paul II nicht nur Oberhaupt der Katholiken war, sondern auch maßgeblich Einfluss auf die politische Orientierung und Umgestaltung in Polen gegen Ende des letzten Jahrhunderts ausgeübt hat. (Der Einfluss der Kirche auf die Politik in Polen geht allerdings inzwischen deutlich zurück.) – Man findet in Dörfern und Städten allüberall Kirchen; und diese sind zu den Gottesdienstzeiten stark besucht und in ihnen verweilen und beten auch außerhalb der Gottesdienste viele Gläubige. Religiöse Darstellungen auf Bildern oder Skulpturen wie auch Liedertexte oder Betrachtungen auf Gebetszetteln oder auf Anschlägen in den Kirchen muten uns teilweise befremdlich an. Und wir dürfen (mit Respekt und auch Stolz) darauf hinweisen, dass unser Pastor in Gottesdiensten in der polnischen Gemeinde oder in unserem Kreis (z. B. im Kloster Tschenstochau) in seinen Predigten, Fürbitten und Gebeten überzeugend und mutig anders akzentuierte Glaubensüberzeugungen und -erfahrungen ergänzend dagegengesetzt hat. – Aber überzeugend und auch ergreifend war für uns, wie ehrlich, emotional, freudig und feierlich polnische Christen ihren Glauben, z. B. an einem Samstagabend von 21.00-22.15 Uhr in einer Muttergottesandacht in einer restlos gefüllten Kirche, bekennen und feiern. Insofern hat gerade die Begegnung in Ratibor deutlich gemacht, dass wir ins Gespräch kommen und voneinander lernen können und müssen.
Lernen mussten wir auch bei einem Besuch des KZ Auschwitz. Die sehr kompetente Führerin ließ die Gebäude, Exponate, Fotos und Texte sprechen, ohne durch zu viele Worte deren Wirkung zu relativieren. – Unsere Antworten darauf – abgesehen von gezielten Nachfragen – waren: Entsetzen, Scham und Tränen. Auschwitz lässt einen verstummen. – In einer Eucharistiefeier im Kloster Tschenstochau in der eigens für uns reservierten Rosenkranzkapelle knüpfte Pastor Niekämper in seiner Predigt an den Auschwitz-Besuch an und schlug von der Frage nach der Schuld des Menschen einen Bogen zu der Hoffnung auf Heil und Erlösung.
Auf uns ist während unserer Studienreise nicht nur viel eingestürmt. Wir haben uns, nachdem wir schon nach frühzeitigen Vorbesprechungen ein gutes Gefühl hatten, zu einer Gemeinschaft zusammengefunden, die bei allen Strapazen und Anstrengungen des Reiseprogramms sehr viel gegenseitige Wertschätzung erfahren, Freude erlebt und Spaß miteinander gehabt hat. Natürlich haben wir auch oft und länger im Bus gesessen, haben uns aber dabei mit Themen vorbereitend auseinandergesetzt, viel gesungen (mit wahrer Begeisterung das polnische Lied „Abba Ojcze“ für den Sonntagsgottesdienst in Ratibor), deshalb prophylaktisch Hustensaft getrunken (den manche als Vodka diskreditierten), gelacht und viel miteinander gesprochen, ernsthaft und amüsiert (wie z.B. über die Überflüssigkeit eines Adapters). Des Abends haben wir auch noch länger zusammengesessen; irgendwelche Personen müssen die letzten sein.
Am allerletzten Abend in Breslau haben wir nach einem vorzüglichen Essen gefeiert und einen Rückblick gewagt. Viele von uns äußerten sich dazu, was ihnen die gemeinsame Fahrt vermittelt und gebracht habe. Elsa Sippel betonte, dass Auschwitz für sie persönlich ein wichtiger notwendiger Bußgang und dass für sie – als eine evangelische Christin – überraschenderweise die Muttergottesandacht in der ihr eigentlich fremden Andersartigkeit ein Höhepunkt der Reise gewesen sei. Annemarie Forstmann drückte ihre tief empfundene Freude darüber aus, dass sie noch einmal ihre Heimat wiedergesehen und vergangene Zeiten habe wiederaufleben lassen dürfen; und das in unserem Kreis, in dem sie nicht als aus St. Markus zugereist angesehen, sondern als eine von uns aufgenommen und angenommen worden sei. Ganz ähnlich äußerten sich Dorothea und Norbert Franitza, beide gebürtig aus Ratibor, die ursprünglich nicht hatten mitfahren wollen, aber glücklich gewesen seien, sich doch noch anders entschieden zu haben. Ilse Krisam war glücklich und stolz, dass niemand sie wegen ihres Alters von dieser Studienreise habe abbringen können; denn dann hätte sie in ihrem Leben etwas Entscheidendes verpasst. – Es gab weitere ähnlich lautende Äußerungen und allenthalben zustimmendes Kopfnicken.
Nach der Ankunft in Essen bei feierlichem Glockengeläut versammelten wir uns noch einmal in der Christ König-Kirche zu einem letzten gemeinsamen Abendgebet mit abschließendem Segen und gingen dann auseinander – ein wenig müde zwar, aber glücklich über unvergessliche Eindrücke, Erlebnisse und Begegnungen. – Es bleiben viele lebendige Erinnerungen und die Vorfreude auf den Rückbesuch unserer Freunde aus Ratibor, hoffentlich schon im kommenden Jahr.